Heinrich von Veldeke hat mit seinem „Eneasroman“ (um 1190) die Tradition des höfischen Romans in deutscher Sprache begründet (oder wie es Gottfried von Strassburg in seinem Literaturexkurs im „Tristan“ formuliert: er inpfete daz êrste rîs/in tiutscher zunge). Er hat den altfranzösischen „Roman d’Eneas“ bearbeitet, dessen unbekannter Autor das römische Nationalepos, Vergils „Aeneis“ seiner Zeit (um 1150/60) angepasst hat. Beide Übertragungen stehen in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen Rezipientenkreisen und deren Interessen : Die beiden Autoren erzählen die „Aeneis“ unterschiedlich, setzen andere Schwerpunkte, orientieren sich an neuen Werten, kontextualisieren verschieden und entwickeln dabei ihr eigenes Erzählkonzept. Wie erschliessen mittelalterliche Dichter das antike Epos ihrer Zeit, in der grundlegend andere Interessen, Werte und Ideen gelten? Was macht das Mittelalter beispielsweise mit der Seherin Sybille? Oder: Wie wird die Unterwelt im christlichen Kontext umgestaltet? Wie wird gerechtfertigt, dass Eneas Dido verlässt und er später seinen gleich starken Gegner Turnus besiegt, wenn die antiken Götter entfallen, die bei Vergil die Handlung vorantreiben? Vom „Eneasroman“ ausgehend werden wir einige Stationen genauer unter die Lupe nehmen und mit ihrer stofflichen Vorlage vergleichen, um Veldekes Vorstellungen, etwa von Gemeinschaft, Herrschaft und Liebe, herausarbeiten zu können. Während die Frage nach der mittelalterlichen Rezeption des Werkes uns während der ganzen Lektüre begleiten wird, kann das Heranziehen der drei illustrierten Handschriften nochmals einen ganz neuen Zugang zu dieser Frage ermöglichen.