Die Kategorie des Raums ist in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zu einer Leitkategorie der methodischen Analyse geworden, und so prägt die Beschäftigung mit Raumkonzepten seit dem sog. spatial turn nicht nur die allgemeinen Theoriedebatten, sondern ebenso konkrete literaturwissenschaftliche Untersuchungen. In diesem Zusammenhang erscheint es lohnend, auch einen neuen Blick auf die erzählerische Konstruktion des Jenseits in mittelalterlichen Texten zu werfen. Das Jenseits markiert in der mittelalterlichen Vorstellung einen Raum, der eigentlich erst nach dem Tod betreten werden kann, dem Menschen vom Diesseits aus also nicht zugänglich ist. Dennoch berichten eine Reihe von Texten von Grenzüberschreitungen, die es den jeweiligen Jenseitsreisenden erlauben, diesen unwirklichen Raum des Jenseits narrativ zu vermessen. Wir wollen gemeinsam literarische Beispiele solcher Jenseitsreisen von ihren antiken Vorläufern bis zu Dante untersuchen und die wesentlichen Elemente der Jenseitskonstruktionen, ihrer narrativen und bildlichen Darstellungsformen und Funktionen erarbeiten. Den Ausblick bilden Jenseitserzählungen in der Gegenwartsliteratur und die Diskussion der Frage, was solche mittelalterlichen Erzähltraditionen auch in einer (post)modernen säkularen Gesellschaft noch attraktiv erscheinen lässt.