Von den ‚Leerstellen‘ literarischer Texte ist in interpretationstheoretischen Zusammenhängen oft die Rede. Zwar ist der Gebrauch des Begriffs alles andere als einheitlich, im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners der Debatte lässt sich jedoch festhalten, dass als ‚Leerstellen‘ gemeinhin Informationsdefizite in literarischen Texten identifiziert werden. Grob vereinfacht gesagt, lassen sich vier Typen solcher Informationsdefizite unterscheiden:

(1) Der Text informiert nicht ausdrücklich darüber, in welcher Absicht fiktives Geschehen dargestellt wird und dementsprechend zu deuten ist. So lassen Texte ihre LeserInnen etwa durch den Verzicht auf paratextuelle Angaben in der Regel darüber im Unklaren, welche kategorialen Intentionen ihnen zugrunde liegen (z.B. Komödie, Satire oder Polemik).

(2) Der Text informiert nicht erschöpfend über die fiktiven Gegenstände, von denen er handelt. Während einige Texte beispielsweise sehr ausführlich über die äussere Erscheinung von Figuren berichten, lassen andere Texte die Erscheinung der agierenden Figuren völlig im Unklaren.

(3) Der Text informiert nicht erschöpfend über den handlungslogischen Zusammenhang der fiktiven Gegenstände, von denen er handelt. Als typischen Fall eines solchen Informationsdefizits kann man Ellipsen in handlungsdarstellenden Texten bezeichnen.

(4) Der Text informiert nicht ausdrücklich über die Verlässlichkeit der Aussagen, die in Form auktorialer Einlassungen oder von Figuren gemacht werden. So gibt es etwa viele Texte, in denen in Form auktorialer Einlassungen explizite moralische Urteile über Figuren bzw. solche Urteile von Figuren selbst über andere Figuren abgegeben werden, ohne das LeserInnen über die Verlässlichkeit dieser Urteile informiert werden würden.

Das Seminar wird sich um die systematische Ausarbeitung dieser typologischen Unterscheidung bemühen. Seminarlektüre werden dabei sowohl thematisch einschlägige Texte aus den Bereichen Sprachphilosophie und Literaturtheorie als auch erzählende Texte der Literatur des 20. Jahrhunderts sein, anhand derer sich ‚Leerstellen‘ und Möglichkeiten sowie Probleme ihrer Besetzung beispielhaft diskutieren lassen.

Im Mittelpunkt unserer Bemühungen soll die Frage stehen, ob und inwieweit die Möglichkeiten der Besetzung von ‚Leerstellen‘ in literarischen Texten durch die Texte selbst determiniert oder doch zumindest restringiert werden oder ob sich LeserInnen bei der Besetzung solcher ‚Leerstellen‘ keinerlei logisch-semantischen Beschränkungen von Seiten des Texts unterworfen sehen.

Ziel dieser Bemühungen soll es sein, eine typologisch differenzierte Theorie der ‚Leerstelle‘ sowie der Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Besetzung zu erarbeiten, um zum Ende des Semesters hin einen theoretisch fundierten Beitrag zu der Frage leisten zu können, ob und inwieweit die Möglichkeiten, literarische Texte zu interpretieren, offen sind oder aber durch Texte logisch-semantisch begrenzt werden.