Kindheit wird spätestens seit der berühmt gewordenen These von Philippe Ariès als etwas Wandelbares angesehen. Das bedeutet, es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten verschiedene Vorstellungen von Kindheit – und damit auch von „dem Kind“ – existierten. Kindheit ist, mit anderen Worten, ein Phänomen, das sich historisch untersuchen lässt.

Der französische Historiker Ariès postulierte in seinem 1960 erschienenen Buch L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime (Geschichte der Kindheit, 1975), die Kindheit sei eine Entdeckung der Neuzeit. Er formulierte die These, dass moderne Vorstellungen von Kindheit und die daraus resultierende Differenzierung unterschiedlicher menschlicher Entwicklungsphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) nicht a priori gegeben seien, vielmehr hätte sich diese Unterscheidung – und damit die Kindheit – erst im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt. Diese These gilt inzwischen zwar als überholt (verschiedene Studien haben aufgezeigt, dass eine konkrete Vorstellung von Kindheit als einer eigenständigen Entwicklungsphase bereits im Mittelalter existierte), gleichwohl wird sie auch heute noch oft zitiert. Ariès’ These wurde zudem zu Beginn der 1980er-Jahre vom US-amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman in einem viel beachteten Buch dahingehend ergänzt, dass die Kindheit – die als Phänomen erst Ende des Mittelalters aufgetreten sei – im späten 20. Jahrhundert im Verschwinden begriffen sei.

Ausgehend von diesen Überlegungen zur Kindheit als historisches Phänomen beschäftigen wir uns im Seminar mit verschiedenen Vorstellungen davon und Theorien dazu, was Kindheit – und damit auch „das Kind“ – sei. Dabei setzen wir uns mit unterschiedlichen Kontexten auseinander, in denen sich Kindheit und Kindsein untersuchen lassen. Zu diesen Kontexten zählen etwa die Familie, die Schule, soziale Milieus, das Recht und die Medizin. Der zeitliche Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Fragen, die im Seminar behandelt werden, sind beispielsweise: Welche Theorien und Vorstellungen von kindlicher Entwicklung sind im Laufe der Zeit entstanden? Wie und wann wurden Kinder zu Rechtsobjekten und Rechtsubjekten? Wie und warum veränderten sich in der Schweiz die Ansichten zur Kinderarbeit? Inwiefern beeinflussten medizinische Konzepte die Vorstellung einer „normalen“ Kindheit respektive von „normalen“ Kindern?