Phänomene von Stimme und Stimmung in der Literatur des Mittelalters

Lyrik gilt zeitgenössisch als Kategorie literarischen Wertes von Lesetexten, Musik dagegen ist für uns mit einem Hörerlebnis verbunden. Das unterscheidet sich wesentlich von der Situation des Hochmittelalters, in der ‘musica’ primär eine Wissenschaft der mathematischen Proportionen ist, neben der die  Praxis des Singens als minderwertig gilt. Zugleich aber ist genau diese Praxis des Singens in geistlichen wie weltlichen Gemeinschaften nicht nur verbreitet, sondern auch literarisch signifikant: Stimme und Körper werden sowohl in den weltlichen Liebesdichtungen wie in geistlichen Texten immer wieder thematisiert. Dass Phänomene von Klang und Stimme wesentlich für volkssprachige Formen mittelalterlicher Literatur sind, ist seit Paul Zumthor Konsens der Forschung, doch ist umstritten, wie sich diese Phänomene und ihre Bedeutung präzise beschrieben lassen. Das gilt umgekehrt auch für den Begriff des ‘Lyrischen’, der oft als Kurzformel für literarische Qualität in Anspruch genommen wird, etwa, wenn er so unterschiedlichen Texten wie Gottfrieds ‘Tristan’ oder dem ‘Fließenden Licht der Gottheit’ Mechthilds von Magdeburg zugeschrieben wird. Problemtisch wird dieser Begriff allerdings dann, wenn er dazu dient, solchen Texten die Bedeutung abzusprechen, die sich den Normen mittelalterlicher Regelpoetik entziehen – so etwas mystische Lieder, rhythmisierte Prosa oder geistliche Prosimetra. Daher ist noch einmal neu zu fragen, auf welche Weise sich die affektive Wirkung solcher Texte wissenschaftlich fassen lässt. Gumbrecht (2012) hatte dazu den umstrittenen Begriff der ‘Stimmung’ ins Spiel gebracht – nicht als diffuse Gefühlsatmosphäre, sondern als aus der Musik entlehntes Konzept der Temperierung. Für volkssprachige Texte des Spätmittelalters stellt gerade dieser Begriff vielleicht eine Möglichkeit dar, die Verbindung zwischen kunstvoll gesetzen Proportionen sprachlicher Mittel und der Wirkung von Klanglichkeit neu zu untersuchen.

Im Rahmen der Stammler-Professur soll der Versuch unternommen werden, vor dem Hintergrund moderner theoretischer Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Lyrischen (Culler 2015; Kablitz 2013) einerseits und mediävistischen Ansätzen zu Stimme und Stimmlichkeit in Texten und handschriftlicher Überlieferung andererseits die spezifischen Bedingungen mittelalterlicher Literatur als Teil einer Klangkultur neu zu erfassen. Anhand ausgewählter Beispiele aus unterschiedlichen Gattungen soll der Versuch unternommen werden, eine Ästhetik des Umgangs mit dem Lyrischen zu entwerfen.

Als Arbeitskomplexe sind vorgeschlagen

·         Stimme und Körper: Lyrische Elemente in erzählenden Texten

(z.B. Tristanerzählungen; Ulrich von Lichtenstein)

·         Vox clamantis: Stimme und Gebet

(z.B. Hildegard von Bingen; Mechthild von Magdeburg)

·         'Stimme'  als Kategorie in Handschriften

(z.B. Carmina Burana; geistliche Sammelhandschriften)

·         'Stimmung' als literarische Kategorie mittelalterlicher Texte

(z.B. Minnelyrik; Kontrafaktur; mystische Lyrik)