Die Lehrveranstaltung untersucht aus bildanthropologischer, materialsemantischer und gender kritischer Perspektive die Wirk- und Handlungsmacht von Porträts in Miniatur. 

Als die aktuellste Form dieser Gattung können jene kleinformatigen Bilder bezeichnet werden, die wir heute auf unseren Smartphones speichern. Miniaturporträts früherer Zeiten wurden auf Pergament, Elfenbein oder Metall gemalt und hinter Glas oder goldenen, juwelenverzierten Hüllen geborgen. Diese Behältnisse schützten nicht nur, sondern erlaubten auch, das Bildnis unmittelbar am Körper zu tragen. Aufgrund ihrer kleinen Dimension, ihrer Verschließbarkeit (gleich Reliquiaren), den begleitenden Operationen des Entbergens und Verbergens, den für ihre gemeinsame Betrachtung zusammengesteckten Köpfen und sich begegnenden Händen war mit diesen Artefakten stets ein Geheimnis verbunden. In der Öffentlichkeit am eigenen Körper exponiert, erlaubten sie die performative Herstellung und Vorführung von Intimität und Privatheit. Miniaturporträts waren selten dauerhaft fixiert, sondern wanderten zwischen Händen und Körpern. Zumeist dienten sie als Objekte der Gabe, mit denen Netzwerke zwischen Personen unterschiedlicher Identität geknüpft wurden. Aufgrund all dieser Qualitäten sind Porträts in Miniatur prototypische Beispiele für Artefakte mit agency (Gell/Latour); Dinge mit Wirk- und Handlungsmacht, die das Potenzial besitzen, binäre gedachte Relationen von Subjekt und Objekt zu unterlaufen, zu verkehren und in Frage zu stellen.

Welche Eigenarten sind es jeweils, so die zentrale Frage des Seminars, über welche diese kleinen Artefakte ihre agency entwickeln? Welche Bedeutung kommt dem besonderen Format, der körpernahen Manipulierbarkeit, dem Wandern zwischen Körpern (und Körperteilen) oder dem eingesetzten Material und Medium zu? Die ersten Stunden werden dem Studium von exemplarisch dichten Werkanalysen und theoretischen Grundlagentexten gewidmet sein (Phänomenologie des Minaturporträts in historischer Perspektive; Operationen des Entbergens und Verbergens in der Kunst; Art & Agency; Theorie der Gabe; historische Traktatliteratur; Maltechnik etc.). Sie bilden den Ausgangspunkt für die Erarbeitung der folgenden Referate über ausgewählte Beispiele und Sonderformen vom 16.-19. Jahrhundert. Nicht zuletzt steht das Fortleben dieser Artefakte im Zeitalter der Fotografie und der digitalen Medien zur Diskussion.

 

Literatur zur Einführung:

Ausst.-Kat. Elizabethan Treasures. Miniatures by Hilliard and Oliver, hg. v. Catharine MacLeod u.a., London, 2019.

Frank, Robin Jaffee, Love and Loss: American Portrait and Mourning Miniatures, New Haven 2000.

Fumerton, Patricia, Cultural Aesthetics: Renaissance Literature and the Practice of Social Ornament, Chicago 1991.

Gell, Alfred, Art and Agency: An Anthropological Theory, Oxford 1998.

Grootenboer, Hanneke, Treasuring the Gaze. Intimate Vision in Late 18th-Century Eye Miniatures, Chicago/London 2012.

Koos, Marianne, “Concealing and revealing pictures ‘in small volumes’: Portrait miniatures and their envelopes”, in: Espacio, Tiempo y Forma 6 (2018), 19-46. (online, golden open access)

Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1999.

Pappe, Bernd u.a. (Hg.), Portrait Miniatures. Artists, Functions and Collections, Petersberg 2018.

Pointon, Marcia, „’Surrounded with Brilliants’: Miniature portraits in 18th-Century England”, in: The Art Bulletin 83 (2001), 48-71.

Pointon, Marcia, Brilliant effects: A Cultural History of Gem Stones and Jewellery, New Haven/London 2009.

Stewart, Susan, On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir and the Collection, Durham 1993. 

Strong, Roy, The English Renaissance Miniature, London 1983.