Unter dem Begriff ‚Versnovellistik‘ sind kürzere Reimpaarerzählungen mit einer großen thematischen Vielfalt versammelt. In den – häufig schwankhaften – Erzählkonstellationen werden u.a. Themen wie Geschlechterbeziehungen, das Verhältnis zwischen Herr und Knecht, illegitimes Begehren oder auch Konflikte zwischen Pfaffen und Laien ausgelotet. Dabei werden das Strapazieren von Normen, List und Betrug, Ordnungsbrüche und deren Bestrafungen vorgeführt. Die Erzählkommentare am Beginn und am Schluss erzeugen mit ihren deutenden und häufig didaktisierenden Einschüben mitunter Irritationen bei der Interpretation dieser Texte. Es sind Autoren wie Konrad von Würzburg in dem ihm zugeschriebenen sog. Herzmäre und Heinrich Kaufringer in den drei listigen Frauen oder in der unschuldigen Mörderin, welche „die Freisetzung des Witzes als ungebundenes intellektuelles Vergnügen“ (Grubmüller, S. 1315) vorantreiben und das Erzählen vom Zufall bis ins Absurde steigern.

Neben der intensiven Textlektüre und Diskussion solcher Inhalte stehen im Seminar ebenfalls grundlegende Fragen im Mittelpunkt, die etwa die Überlieferung der Texte, insbesondere das Phänomen der Mehrfachüberlieferung, die textinterne Inszenierung des Erzählers, wie auch die Gattungsdiskussion betreffen.

Unter der Bezeichnung ‚Mären‘ sind derartige Erzähltexte bereits in den Fokus der mediävistischen Forschung gelangt. Die 2020 erschienene Edition Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts erweitert den mittlerweile kanonisch gewordenen Bestand um eine Vielfalt weiterer und dabei häufig in der Forschung noch nicht berücksichtiger Texte (4).

Das Seminar wird sich daher zuerst mit kanonischen Texten aus der Ausgabe von Klaus Grubmüller beschäftigen und sich anschließend in der zweiten Hälfte einer Auswahl von neuedierten Texten widmen.