Geschichtsschreibung verändert sich. In eindrücklichem Masse lässt sich das an historiographischen Publikationen zum Zweiten Weltkrieg nachvollziehen. Noch während des Krieges entstanden erste Einschätzungen renommierter Historiker, die oft auch persönlich von Verfolgung und Haft betroffen waren, bevor sie im Exil ihre Beobachtungen zu Papier brachten. In der Nachkriegszeit prägten zunehmend die bipolare Weltordnung und der Kalte Krieg die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg. Sowohl im Westen wie auch im Osten entstanden Narrative, die in erster Linie dazu dienten, die Werte des eigenen Systems zu stärken, von eigene Fehlern abzulenken und ehemaligen Gegnern wie auch ehemaligen Verbündeten Versagen, Verrat und exzessive Gewalt vorzuwerfen. Oder aber – wie im Falle der Schweiz – unterband die offizielle Politik jegliche kritische Auseinandersetzung mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg. Auch geschlechtergeschichtliche Diskussionen existierten in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg in der Historiographie kaum. Lager wurden zwar in ihren unterschiedlichen Formen analysiert, über die Rolle der Frauen, sowohl als Gefangene als auch als Aufsichtspersonal und insbesondere aber als Opfer sexueller Gewalt wurde kaum geschrieben.
Eine wichtige Zäsur finden auf allen drei oben beschriebenen Ebenen in den 1990er Jahren statt. Durch den Niedergang des Sozialismus in Ost- und Südosteuropa und die Öffnung zahlreicher Archive konnte sich eine neue Diskussion über den Zweiten Weltkrieg entfalten. Dasselbe galt für die Rolle der Schweiz, denn die durch die Debatte um „nachrichtenlose Vermögen“ ausgelösten Forschungsprojekte förderten neue Erkenntnisse zu Tage. Ein ähnlicher Paradigmenwechsel ist auch in Bezug auf die Untersuchung von Frauen im Zweiten Weltkrieg zu erkennen.
In diesem Historiographie-Seminar erarbeiten wir uns einen Überblick über die Entwicklung der Historiographie mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Dabei sollen wichtige Zäsuren und Paradigmenwechseln, so genannte „turns“, im Zentrum stehen und diskutiert werden.
- Enseignant·e: Franziska Anna Zaugg