Die Konstruktion und Dekonstruktion von Kanon gehören zu den wichtigsten Prozessen der menschlichen Kulturgeschichte. Kanonisierungsprozesse können dabei bewusst durch Herstellung offizieller Verbindlichkeit stattfinden, etwa in der Kodifizierung von Gesetzen, oder unbewusst durch das Erzeugen einer kraftvollen Rezeption, z.B. wenn Musikbands durch ihre Musik einen gesellschaftlichen Nerv treffen und über Nacht an Berühmtheit gewinnen. Neben der Konstruktion kennt die Kanongeschichte aber auch die Dekonstruktion von Kanon, die bisweilen gar in eine gewalthafte Normierung durch das Zensieren bestimmter Ideen und Werke münden kann. Gerade die Religionsgeschichte ist von zahlreichen Beispielen solcher Zensurmassnahmen geprägt. Die Verfolgung des britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie ist für die zeitgenössische islamische Geistesgeschichte eines der aktuell prägendsten Beispiele der Beschränkung der Meinungsfreiheit. So kennt auch die islamische Religionsgeschichte sowohl Bestrebungen der Zensur wie solche der Konstitution von Verbindlichkeit und der Erzeugung von Rezeptionskraft. Das Seminar führt in die interdisziplinäre Kanon- und Zensurtheorie ein und blickt von dort aus auf Kanonisierungs- und Zensurprozesse in spezifisch islamisch-religiösen Kontexten. Historische wie auch zeitgenössische Beispiele werden sukzessive erschlossen und diskutiert.
- Enseignant·e: Amir Ben Noureddine Dziri