Mittelalterliche Texte sind unfeste Texte. Erst die Erfindung des Buchdrucks führte zur Reproduktion von Büchern, deren Texte identisch sind. Im Manuskriptzeitalter hingegen gibt es keine identischen Texte: Ausnahmslos jeder reproduzierte Text eines Werks weicht von den anderen Texten desselben Werks – in unterschiedlicher Qualität und Quantität – in Textformulierung, Textbestand, Textfolge und Textstruktur ab. Erst in der jüngeren Vergangenheit hat man damit begonnen, dieser Einsicht Rechnung zu tragen. Die historisch-kritischen Editionen mittelalterlicher Texte waren über lange Zeit der Methode Karl Lachmanns verpflichtet, die darin bestand, einen dem Original bzw. dem rekonstruierten ‚Archetyp‛ möglichst nahe zu kommen. Daraus resultierten Eintext-Editionen, die eine Textfassung kanonisierten und die abweichenden Textformulierungen im Lesartenapparat (der gelegentlich scherzhaft als ‚Lesartenfriedhof‛ bezeichnet wird) versenkten. Dadurch aber werden autornahe Formulierungen dem Blick der Leserin und des Lesers weitgehend entzogen.
Im Kurs werden wir daher zur Schaufel greifen und einige grundlegende der auf dem Lesartenfriedhof begrabenen Formulierungen exhumieren. Über solche Einzelanalysen hinausgehend, werden wir uns mit grundlegenden theoretischen Fragen der Generierung von Varianz in einem semi-oral ausgerichteten Literaturbetrieb beschäftigen und zuletzt der Frage nach der angemessenen editorischen Behandlung unfester Textüberlieferung nachgehen. Mit anderen Worten: Wir widmen uns allen Facetten eines „Buchismus“, wie er sonst nur in Buchhaim (siehe Walter Moers’ „Die Stadt der träumenden Bücher“) betrieben wird.
LITERATUR:
Die benötigten Materialien (Primär- und Sekundärliteratur) werden auf Moodle bereitgestellt.
- Docente: Robert Schöller