„Individualisierung“ – das ist der Begriff für eine der bedeutendsten Entwicklungen der sozialen und kulturellen Wirklichkeit der letzten hundert Jahre. Auf der einen Seite bedeutet Individualisierung die Herauslösung aus traditionellen Sozialformen und näherhin aus den durch diese verkörperten Herrschaftsverhältnissen, einher­gehend mit dem Verlust bestehender Sinnorientierungen und des damit gegebenen Orientierungswissens; nicht länger ist das Schicksal des Einzelnen, seine materiellen Lebensgrundlagen ebenso wie seine Zukunftsaussichten, gegeben mit der Zuge­hörigkeit zu einer sozialen Schicht oder einem Stand. Auf der anderen Seite bedeutet Individualisierung die an das freigesetzte und verselbständigte Individuum ergehen­de Verpflichtung, für sich neue Formen des geordneten Zusammenlebens zu er­schlies­sen und zu realisieren, selbst wiederum für stabile Lebens­verhältnisse zu sor­gen: Neuordnung und Neustrukturierung (noch) verfügbarer Hand­­­lungsmuster, Schaf­fung neuer sozialer Sicherheiten. Das Individuum „bastelt“ sich seine soziale Welt und mit ihr auch seine Biographie.

Dabei gehorcht das Individuum seinen eigenen Interessen. Und auch wenn es beste­hende Regelungen, Kontrollmechanismen, lebensweltliche Sinnstrukturen – wenn es all dies sozusagen als Material übernimmt, die von ihm geschaffene Welt ist seine Konstruktion, hergestellt nach seinen Prinzipien. Bleibt allerdings die Frage: Wo hat in dieser Welt das Gemeinwohl seinen Platz? Wie kommt es zur Bildung von Inte­ressen, welche als solche die Interessen des Gemeinwesens sind? Gibt es sogar das Inte­resse des Gemeinwesens, welches in letzter Konsequenz die Partialinteressen, die Interessen seiner Mitglieder, von sich aus in die Pflicht nehmen kann? Kommt hinzu, dass das Interesse des Gemeinwesens explizit normativen Charakter besitzt: „Wehe dem, der Eigennutz vor Gemeinnutz stellt“.

„Individualisierung – verschwindet das Gemeinwohl?“ Die Erörterung dieses Themas lie­fert wesentliche Anhaltspunkte zum Verständnis der modernen Gesellschaften.