In diesem Proseminar setzen wir uns mit ausgewählten Aspekten der schweizerischen Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert auseinander. Wir gehen dabei von einem weiten Begriff von Sozialpolitik aus. Sozialpolitik zielt zum einen darauf ab, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten in einer Gesellschaft auszugleichen. Armenfürsorge, Arbeiter- und Arbeiterinnenschutz, die Einrichtung von Sozialversicherungen oder Fragen nach Wohlstandssicherung sind Beispiele für das sozialpolitische Bestreben, die soziale und wirtschaftliche Stellung von Menschen zu verbessern und dem sozialen Abstieg vorzubeugen. Nicht alle Personen(gruppen) wurden allerdings als ‚würdig‘ für den Empfang sozialer Leistungen oder Schutzmassnahmen eingeschätzt. In dieser Hinsicht funktioniert Sozialpolitik zum anderen als Instrument zur Verwaltung und Organisation von Gesellschaft mit dem Ziel, Menschen in einem (nationalstaatlichen) Verband ein- oder auszuschliessen und gesellschaftliche Normvorstellungen durchzusetzen. Historische Beispiele dafür sind die administrative Anstaltsversorgung, die Fremdplatzierung  von Kindern, Zwangssterilisationen oder die Ausschaffung von ,unliebsamen‘ Migrantinnen und Migranten.

Im Proseminar setzen wir uns mit diesem Spannungsverhältnis von Sozialpolitik als Instrument des Ausgleichs und der Integration und Ausgrenzung auseinander: Wie entwickelten und veränderten sich sozialpolitische Konflikte, Massnahmen und Debatten in der Schweiz vom späten 19. bis ins späte 20. Jahrhundert? Wer waren die zentralen Akteure, Akteurinnen und Institutionen? Wie veränderten sich die gesellschaftlichen Werte- und Normvorstellungen, die die schweizerische Sozialpolitik präg(t)en? Welche Rolle spiel(t)en Ungleichheiten entlang der sozialen Schicht, des Geschlechts, des Alters und der Nationalität bei der Vergabe von Leistungen?

Ziel dieses Proseminars ist es, theoretische Grundlagen der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zu Sozialpolitik kennenzulernen. Die Diskussion sekundärwissenschaftlicher Texte dient dazu, sozialpolitische Entwicklungen in der Schweiz zu analysieren. Die Arbeit mit historischen Quellen – die historische Analyse, Interpretation und Einordnung – wird geübt und in der Proseminararbeit vertieft.

Das Proseminar kann nur besucht werden, wenn gleichzeitig auch der damit verbundene Grundkurs besucht wird.


Lektüreempfehlung

Bernhard Degen, Soziale Sicherheit für Arbeiterschaft oder Gesamtbevölkerung? Sozialpolitische Geschichte der Schweiz, Zürich 2006.

Hans-Jörg Gilomen et al. (Hg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung : Umbrüche und Kontinuität vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2002.

Tanja Rietmann, „Liederlich“ und "arbeitsscheu" : die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884-1981), Zürich 2013.