Mit der Frage „Was ist der Mensch?“ definierte Immanuel Kant das Grundproblem der Anthropologie und gilt damit als einer ihrer modernen philosophischen Begründer. Auch wenn die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht in jeder sozialanthropologischen Forschung explizit gestellt wird, so scheint sie doch in allen Arbeiten zumindest implizit auf. Beschreibungen und Erklärungen von sozialen Prozessen, Dynamiken und Diskursen, von individuellen Handlungen, Ideen, kulturellen Überzeugungen und Empfindungen können nicht umhin, Annahmen darüber zu treffen, wer hier auf welche Weise wie handelt und unter welchen Zwängen über welche relative Handlungsmacht (agency) verfügt. Mit anderen Worten: anthropologische Forschungen machen notwendig Aussagen über das Wesen (die Ontologie) der relevanten „Subjekte“ soziokultureller Phänomene und über die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten und Grenzen der Einsicht in die Gründe ihres Verhaltens. Dieses Seminar nimmt diesen Sachverhalt zum Ausgangspunkt, um sich mit einer Auswahl von Subjekttheorien in der Anthropologie zu beschäftigen, die die Frage nach dem Wesen des Menschen auf sehr unterschiedliche Weise beantworten. Dabei reicht das Spektrum behandelter Ansätze von Marx’ Historischem Materialismus, über evolutionistische Ansätze, Pragmatismus, die frühe französische Soziologie Durkheims und Mauss’, Psychoanalyse, Kritische Theorie, Phänomenologie und Existentialismus bis hin zu Strukturalismus und Poststrukturalismus. Ziel der Veranstaltung ist es, diese eher philosophisch-theoretischen Diskussionen zu konkreten anthropologischen Studien in Verbindung zu setzen und an empirischen Beispielen kritisch zu diskutieren.