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Mit der märchenhaft anmutenden, auf das Mittelalter zielenden Formulierung «Es waren schöne glänzende Zeiten» eröffnete Novalis eine Rede, die später im Druck unter dem Titel ‹Die Christenheit oder Europa› (vollständig erstmals 1826) erscheinen sollte. ‹Es war einmal› – das Mittelalter. Mit dem Einsetzen der Rückbesinnung auf einen vergangenen, rund tausend Jahre umfassenden und durchaus heterogenen Zeitraum, dem früh das Sammeletikett ‹Mittelalter› angeheftet wurde, geht die Funktionalisierung dieses Zeitraums als Projektionsfläche einher: ‹Das› Mittelalter begegnet einmal als leuchtende, ‹glänzende› Epoche an der Wiege Europas und der europäischen Völker; dann wieder als ‹finsteres› Zeitalter, das erst durch das Licht der Aufklärung überwunden werden konnte – der Historiker Gerhard Oexle sprach in diesem Zusammenhang von einem «entzweiten Mittelalter». Seit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert wurde der «Traum vom Mittelalter» (Rudolf Kassner) in vielfältiger Art geträumt. Die jungen Nationalstaaten machten sich auf die Suche nach ihren historischen Wurzeln, die als Legitimation dieser Staaten dienen sollten. Erste Lehrstühle wurden errichtet, die ausschliesslich den volkssprachlichen Literaturen gewidmet waren. Mit philologischer Akribie und nationalistischer Euphorie wurde der Fokus auf Texte wie das ‹Nibelungenlied›, die ‹Chanson de Roland›, das ‹Igorlied› oder den ‹Beowulf› gelegt. In der Literatur und in der bildenden Kunst der europäischen Romantik war das Mittelalter stets gegenwärtig, wurden immer neue Imaginationen von Rittertum und Minne entworfen. Schliesslich mutierte dieser Traum vom Mittelalter in den faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts endgültig zum Albtraum: In der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus etwa sahen sich die Ausgegrenzten mit Mitmenschen konfrontiert, die sich als legitime Nachfahren der ‹Germanen› betrachteten und ‹germanisches› Recht und Brauchtum zu neuer Geltung bringen wollten. Die humanitäre Katastrophe, die diese germanische Verirrung bewirkte, führte dazu, dass insbesondere das frühe Mittelalter in der Nachkriegszeit zunächst als Zeichenreservoire für Vergangenheitsprojektionen ausgedient hatte. Doch letztlich konnte auch diese Phase die Mittelalterbegeisterung nur unterbrechen, aber nicht beenden. Bis in unsere Gegenwart hat diese Epoche nichts an Attraktivität eingebüsst: In Romanen, Filmen, Mittelalterfesten und Rollenspielen wird das Mittelalter stets neu «erfunden» (Norman F. Cantor).

Die Vorlesung ist dem Evozieren von ‹Mittelalterlichkeit› in der europäischen Literatur gewidmet. Anhand von ausgewählten Texten wie Walter Scotts ‹Ivanhoe›, Victor Hugos ‹Notre-Dame de Paris› (dt. u.d.T. ‹Der Glöckner von Notre Dame›), Heiner Müllers ‹Germania Tod in Berlin›, Umberto Ecos ‹Il nome della rosa› (‹Der Name der Rose›) werden Einblicke in die europäische Mittelalterrezeption seit dem 19. Jahrhundert gegeben. Zusätzlich werden auch phantastische Mittelalterentwürfe wie etwa J.R.R. Tolkiens ‹Lord of the Rings› (‹Der Herr der Ringe›) oder George R. R. Martins ‹A Song of Ice and Fire› (‹Das Lied von Eis und Feuer›; Verfilmung u.d.T. ‹A Game of Thrones›) ebenso berücksichtigt wie Hal Fosters epischer Mittelalterentwurf ‹Prince Valiant› (‹Prinz Eisenherz›) im Medium des Comics.

LERNZIELE:

- Überblick über die Mittelalterrezeption

- Theoretische Zugänge zur Mittelalterrezeption bzw. zum ‹Medievalism›

- Kenntnis ausgewählter literarischer Texte aus dem Bereich der Mittelalterrezeption.

LITERATUR:

Ein umfassendes Literaturverzeichnis wird in der ersten Stunde ausgegeben.

Zur Einstimmung:

Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008.


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