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‚Höfische Kultur‘ ‒ was ist das eigentlich? Wie lebt man in ihr? Wie isst und trinkt man, wie kleidet man sich? Wie gibt man sich, und wie geht man miteinander um? Und welche Rolle spielt in dieser Kultur die (höfische) Literatur? Ich muss etwas ausholen:
Mittelalterliche Versdichtungen erzählen nicht nur Geschichten, sie entwerfen zugleich komplexe Welten, in denen die Figuren sich bewegen und interagieren, Erfahrungen machen, die das Publikum mit ihnen teilen kann. Die Erzähler beschreiben diese Figuren, lassen sie denken, sprechen und handeln, und sie erschliessen den Hörern zugleich erzählend und kommentierend, was geschieht und worüber es nachzudenken gilt. Sie tun das unter der Voraussetzung einer in den Grundzügen konsensfähigen, das Selbstverständnis von Erzähler und Hörern bestimmenden ‚höfischen Kultur‘ und fordern zugleich zur Auseinandersetzung mit ihr heraus, indem sie Geschehen, Denken und Handeln problematisieren. Die Texte werden so ‒ wie die antiken Epen (Vergils Aeneis u.a.) im gelehrten Kontext der Schulen ‒ zu Medien ethischer, moralphilosophischer Reflexion für Laien. Aus dieser Perspektive wird die ‚höfische Kultur‘ in all ihren alltäglichen Erscheinungsformen Gegenstand einer Betrachtung, die sie als umfassende, kohärente Ordnung begreift. Was lateinische Texte lehrhaft (Fürstenspiegel, Hofzucht) oder tadelnd (Hofkritik) formulieren, führt die höfische Literatur beispielgebend vor. Eben darauf wird es im Seminar ankommen: Szenen mittelalterlicher Literatur in ihrer Bedeutung für die Erzählung wie für die durch sie vermittelte ‚Anschauung‘ eines moralphilosophisch begründeten höfischen Selbstverständnisses und ihm entsprechender höfischer Lebensformen zu interpretieren: Wir werden Romane (Wolframs ‚Parzival‘ und Gottfrieds ‚Tristan‘, Veldekes ‚Eneas‘, Rudolfs ‚Willehalm‘ und seinen ‚Gerhard‘), aber auch das Nibelungenlied, die Hoflehren Thomasins und Winsbeckes und den satirischen ‚Ring‘ Wittenwilers einbeziehen und Themen wie Erziehung, Hochzeit, Sterben und Trauer; Architektur, Innenräume, Kleidung, Moden; Aufzüge und Empfänge, Festordnungen, Tischsitten, Turnier, Jagd und Tanz, aber auch die Messe behandeln. Was sich so Stück für Stück aus den mittelalterlichen Texten nur erschliessen lässt, die Ableitung der beobachtbaren Verhaltensformen von einer philosophischen Konzeption, werden wir uns mithilfe der ersten systematischen Aufarbeitung aller Ausdrucksformen menschlichen Zusammenlebens in der ‚Ceremoniel-Wissenschafft für Privatpersonen‘ des frühaufklärerischen Philosophen Julius Bernhard von Rohr (1728) deutlich machen. Kapitel seiner Abhandlung sollen uns als Einleitung zur vergleichenden Lektüre der einzelnen mittelalterlichen Texte dienen.

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