Das Spielen erfreute sich in der mittelalterlichen Gesellschaft grosser Beliebtheit. Davon zeugen nicht nur diverse Bildzeugnisse (Textillustrationen, Wandteppiche, Elfenbein-kästchen etc.), sondern auch die literarischen Texte des Mittelalters. Die Omnipräsenz des Spielens im mittelalterlichen Alltag schlägt sich zum Einen in vielen literarischen Szenerien nieder, in denen dem Brettspiel unterschiedlichste und mitunter höchst überraschende Erzählfunktionen zugedacht sind: Tristan wird im gleich-namigen Text Gottfrieds von Strassburg von Kaufleuten ent-führt, weil er die Kunst des Schachspiels vorzüglich beherrscht. Gahmuret und Antikonie verteidigen sich im ‹Parzival› Wolframs von Eschenbach mit Schachbrett und -figuren vor einem aufgebrachten Mob. Amouröse Bezie-hungen können (in Epik und Lyrik) über dem gemeinsamen Spiel angebahnt werden. In den ‹Carmina Burana› wird das Spiel in eigenen ‹Spielliedern› thematisiert. Und die Textgattung der ‹Schachallegorie› erörtert das Wesen und die Harmonie der mittelalterlichen Ständegesellschaft anhand des Schachspiels.
Zum Anderen schlägt das mittelalterliche Spiel in der sprachlichen Metaphorik durch. Häufig werden Kontrahenten in poetologisch gewichtigen Abschnitten ‹Matt gesetzt›. Der Erzähler in Wolframs von Eschenbach ‹Parzival› greift in auffälliger Dichte auf Metaphern aus dem Würfel- und Schachspielbereich zurück, um das eigene poetologische Programm, den ‹Würfelwurf der Erzählung› (der âventiure wurf, Pz. 112,9)), ebenso zu veranschaulichen wie um die exponierten Situationen zu erklären, denen die Figuren im Text ausgesetzt werden.
Im Seminar werden wir uns in intensiven Lektüren mit der poetologischen Funktionalisierung des Spiels in mittelalterlichen Texten beschäftigen. In der ersten Stunde wird ein Reader bereitgestellt, in dem Texte der Primär- und Sekundärliteratur zusammengestellt sind.
- Enseignant·e: Robert Schöller