Gibt es zwischen Geschlecht und Lernorientierungen einen Zusammenhang? Die Forschung zu dieser Frage kommt zu sehr heterogenen Ergebnissen. Eine Meta-Analyse verschiedener theoretischer Ansätze und empirischer Studien zu dieser Frage findet sich in Severiens & Ten Dam (1994). Autorin und Autor ziehen aus dieser Meta-Analyse folgenden Schluss: Die durchschnittlichen Geschlechterdifferenzen bezüglich Lernorientierungen sind klein, hingegen kommen die einzelnen Studien zu sehr unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Resultaten. Die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Ergebnisse werfen grundsätzliche Fragen auf. Es ist wahrscheinlich, dass die Unterschiede in den Lernorientierungen von Frauen und Männern wesentlich vom Kontext abhängen. Allerdings wird die Bedeutung der Kontexte – der angebotenen Lernformen, der disziplinspezifischen Kontexte, des spezifischen soziokulturellen Kontextes – in diesen Studien nicht in Betracht gezogen.
In einer eigenen Untersuchung haben Severiens & Ten Dam (1997) eine Differenzierung vorgenommen und das Konzept der Geschlechtsidentität verwendet. Sie unterscheiden also zwischen dem biologischen Geschlecht, das der Kategorisierung in Männer und Frauen zugrunde liegt, und der Geschlechtsidentität der Lernenden, d. h. ihrer Identifikation mit so genannt männlichen oder weiblichen Eigenschaften, Attributen und Verhaltensweisen. Entsprechend erheben sie in dieser Studie nicht nur die Lernorientierungen der Studierenden, sondern – mit einem separaten Instrument – auch deren Geschlechtsidentität. Diese wird mit zwei voneinander unabhängigen Dimensionen, Femininität und Maskulinität gemessen. Eine wichtige Erkenntnis der Studie von Severiens & Ten Dam ist, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem biologischen Geschlecht der Lernenden und deren Geschlechtsidentität gibt. Die Geschlechtsidentität der Studierenden, also ihre Identifikation mit verschiedenen Aspekten von Weiblichkeit und Männlichkeit, ist für ihre Lernorientierung aber durchaus relevant. Studierende mit androgynem Profil, die (unabhängig von ihrer Geschlechtskategorie) auf der Weiblichkeits- wie auch auf der Männlichkeitsdimension hohe Werte angeben, sind auch jene, die stärker den Deep approach bevorzugen und die besten Leistungen aufweisen. Auch ältere Studierende praktizieren übrigens häufiger diesen auf das Verstehen ausgerichteten Lernstil.
Damit muss die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Lernorientierung neu gestellt werden: Inwieweit tragen kontextuelle Faktoren (kulturelles Umfeld, Disziplin, Lernumgebung) zur Produktion von Geschlechterdifferenzen bei? In diese Richtung weist auch ein weiterer Befund dieser Studie: Die Lernorientierung der Studierenden hängt in erster Linie von ihrem jeweiligen Studienfach ab, hingegen spielt deren Geschlecht kaum eine Rolle.